Bin ich ein Pudel?

Es gibt Pudel, die durch jeden Reifen springen, den man ihnen vorhält. Und es gibt Menschen, die sich jeder Anforderung stellen und sie zu bewältigen trachten. In einigen Systemen gibt es auch besonders viele Anforderungen, sprich Reifen. Dazu gehört wohl auch das System Hochschule. Jedenfalls empfand ich das so, als ich während 28 Jahren Professor für Wasserbau und Leiter der gleichnamigen Versuchsanstalt an der ETH Zürich war. Die Reifen hiessen erfolgreicher Unterricht, tiefschürfende Vorträge, relevante Forschung, hochkarätige Expertisen, "reviewed papers", gewichtige Fachbücher usw. Freilich wurden mir diese Reifen nicht bloss von Andern vorgehalten, sondern auch von mir selber. Aber gerade das gehört ja mit zum System Hochschule. Es stellt mit Vorliebe hochmotivierte Reifenspringer an. Ich war auch ein solcher.

Heute bin ich emeritiert und stelle fest, dass mir das System Hochschule keine Reifen mehr vorhält. Dementsprechend springe ich nur noch durch selbstgemachte Reifen, wenn ich überhaupt noch springe. Ist deswegen für mich eine Welt zusammengebrochen? Eigentlich nicht! Denn ich habe schon mit 20 Jahren gelernt, dass meine Identität nicht von meinem Sprungvermögen abhängt. Damit will ich nicht sagen, dass ich mich nicht ab und zu doch auf dieses Sprungvermögen verlassen habe, und das vielleicht sogar zu stark. Aber ich wurde damals gewahr, dass es einen Gott gibt, der sich in Jesus Christus gezeigt hat und der andere Massstäbe anlegt. Bei ihm ist nicht das Leistungsvermögen eines Menschen wichtig, sondern dessen innere Ausrichtung. Deshalb heisst das höchste Gebot, das von diesem Gott erlassen und von Jesus Christus unterstrichen wurde: "Du sollst Gott, deinen Herrn, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüt" und ... "deinen Nächsten wie dich selbst". Der Hauptantrieb unseres Lebens soll also nicht primär eine Tat sein - auch keine religiöse - sondern eine Zuneigung und zwar als Antwort auf die Zuwendung Gottes. Die Tat soll dieser Zuneigung folgen. Meine Identität ist also weder in Descartes Spruch "ich denke, also bin ich" begründet, noch in den heute herrschenden Maximen "ich arbeite, also bin ich" oder eben "ich leiste, also bin ich". Nein, ich existiere - um es gerafft zu sagen - weil Gott ist. Diese Sicht ist befreiend - gerade auch vom Springenmüssen. Ich bin nicht einfach ein Pudel!

Daniel L. Vischer, Dr.Ing., Dr.h.c., em. Prof. für Wasserbau der ETH Zürich.