Theologie als Wissenschaft des Glaubens –

und der Glaube an die Wissenschaft



Ralph Kunz, Prof. praktische Theologie

Notizen zum Referat, 5.April 2011



1 Perlmanns Schweigen


Er hatte inzwischen das Gefühl, gar nicht mehr richtig zu wissen, wie das war: wissenschaftlich zu arbeiten. Es war keine Schreibhemmung … Es war ihm der Glaube an die Wichtigkeit der wissenschaftlichen Tätigkeit abhanden gekommen – dieser Glaube, der ihn früher in Bewegung gesetzt hatte, durch den die tägliche Disziplin möglich geworden war und der die damit verbundenen Entsagungen hatte sinnvoll erscheinen lassen.“1

Dass einem Wissenschafter der Glaube abhanden kommt, ist nicht wirklich neu oder schockierend. Es ist seit der Aufklärung normal. Wenn aber ein Akademiker nicht mehr an seine Wissenschaft glaubt, weckt das Interesse und man vermutet eine persönliche Krise. Darum geht es in Merciers Roman. Der Plot der Geschichte ist aktuell. Der Held, ein Linguist aus Frankfurt, ist zusammen mit renommierten Kollegen aus dem Fach für fünf Wochen auf Santa Margerita. Die neuesten Forschungsergebnisse sollen ausgetauscht werden. Aber Perlmann hat nichts zu sagen. Statt an einem eigenen Entwurf zu arbeiten, übersetzt er den Text eines russischen Kollegen. Die Arbeit ist eine faszinierende Auseinandersetzung über den Zusammenhang von Sprache und Gedächtnis. Und weil der Kollege nicht nach Italien kommen kann und Perlmann partout nichts Eigenes einfallen will, gerät er in Versuchung, seine Übersetzung als Original auszugeben. Ein Verstoss gegen Treu und Glauben. Perlmann wird beinahe zum Plagiator.



Wir wissen und können es fast nicht glauben: Wissenschafter schreiben einander ab – nicht erst seit Gutenberg die Druckkunst erfunden und Wikipedia die Inflationsrate der Wissensproduzenten erhöht hat. Dennoch gilt: Wer nur kopiert, ist kein Wissenschafter. Wer etwas findet, sagt, wo er es gefunden hat, wer etwas erfindet, meldet das Patent an.



Ich bin Theologe. Aus dem Begriff Theologie lässt sich der Gegenstand meiner Wissenschaft erschliessen. Es ist der Logos theou. Ein griechischer Begriff. Man muss ihn übersetzen. Logos theou ist das Wort oder die Kunde oder die Rede von Gott oder über Gott.



Was glauben Sie? Glauben die Theologen an die Wissenschaft? Braucht es Quellennachweis, wenn einer Theologie treibt? Was kann denn ein zünftiger Theologe ausserhalb der Bibel finden? Wie originell kann ein Theologe sein, wenn Gott der Erfinder schlechthin ist? Ist Theologie eine Wissenschaft? Oder sind wir – wenn Gott das Leben erfunden hat – am Ende alle Plagiatoren? Verliert man den Glauben an die Wissenschaft, wenn man an Gott glaubt? Oder verliert man das Gottvertrauen, wenn man an die Theologie glaubt?

Zu viele Fragen. Ich picke eine heraus. Ist Theologie Wissenschaft? Tatsache ist, dass nicht wenige Akademiker die Wissenschaftlichkeit der Theologie bestreiten. Ich könnte mit Perlmann sagen: Weil sie nur an die eigene Wissenschaft glauben und darum nicht verstehen können, dass man an der Universität über den Glauben nachdenkt. Weil sie meinen, Religion sei Privatsache. Weil sie Religiöses per definitionem für arational oder wie etwa Beda Stadler, der Berner Immunologe und antireligiöse Giftspritzer, gar für ,irrational’ halten.

Ich möchte Ihnen in der gebotenen Kürze darlegen, warum ich diese Form des Wissenschaftsglaubens für einen Irrglauben halte und die Irritation der Theologie für nötig. Ich führe aus,

2 Wie Glaube und Wissen aus Sicht der Theologie zusammengehören


Von Wittgenstein stammt der Satz: Worüber man nicht reden kann, soll man schweigen. Man könnte aus dieser Einsicht des Philosophen ein Redeverbot für die Theologie ableiten. Denn – um es mit den Worten der Bibel zu sagen – kein Mensch hat Gott je gesehen. Er ist unfassbar für unseren Geist.

Gott ist kein Gegenstand des Wissens, das ein Mensch beherrschen könnte. Seine Existenz ist weder falsifizierbar noch verifizierbar. Aber die Bibel stellt ein Bilderverbot und kein Redeverbot auf. Du sollst kein Idol von Gott errichten und sollst den, den Du nicht beherrschen kannst, verehren und keine anderen Götter neben ihm haben.



Wenn ich sage, die „Bibel sagt“ und damit (m)eine Überzeugung begründe, mache ich eine entscheidende Voraussetzung. Ich höre die Bibel als Wort Gottes. Logos theou. Theologie verpflichtet sich der Interpretation der Schrift. Die Bibel sagt es so. Warum soll sich die scientific community daran halten? Daran glauben?



Nun kann man Theologie auch als Schriftinterpretation als reine Bibelwissenschaft treiben. Dann geht es darum, möglichst genau zu sagen, was die Bibel sagt und meint. Das setzt keinen Glauben voraus. Erst wenn ich glaube, dass Gott redet und überzeugt bin, dass es wahr ist, trage ich etwas von mir – nennen wir es den konfessorischen Glauben – in die Wissenschaft hinein. Denn die religiöse Überzeugung, dass wir von Gott nicht schweigen müssen, weil sich Gott mitgeteilt hat, kann ich nur bezeugen und nicht beweisen. An dieser Voraussetzung hängt der Zusammenhang von Glauben und Wissen aus Sicht der Theologie.

Und diese Verbindung ist auf den ersten Blick höchst prekär. Sie läuft konträr zur Überzeugung der Wissenschaft, die sich gesinnungsneutral versteht.

3 Warum die Trennung von Glauben und Wissen etwas mit Religion zu tun hat



Es gibt eine starke Fraktion innerhalb der Universität, die sich vehement gegen die Verbindung von Bekenntnis und Wissenschaft wehren. Sie haben ihre guten Gründe. Es gibt keine christliche Mathematik oder katholische Germanistik. Mit derselben Logik lässt sich fragen: Was hat dann eine christliche oder evangelische Theologie an der Uni zu suchen? Wenn schon soll Religionswissenschaft oder Bibelwissenschaft getrieben werden.

Und mein Fach – die praktische Theologie – gehört ganz sicher eher an ein Predigerseminar.



Die Kritiker der Theologie übersehen, dass die Unterscheidung von Glauben und Wissen eine Kerngeschäft der Theologie ist oder diese zumindest wesentlich daran beteiligt ist. Die Ausdifferenzierung von Religion und Wissenschaft ist ein historischer Prozess, der eng mit der Geschichte der Kirche verknüpft ist.



Ich kann es nur in Stichworten sagen: Dass das Glaubensbekenntnis umstritten und sich die Gläubigen verstritten haben, war ein wichtiger Impuls der Aufklärung. Anders gesagt: die Konfessionalisierung der Religion hat einen Streit um die übergeordnete Wahrheit provoziert, der nach einer Instanz der Vernunft hat rufen lassen, die schlichtet und richtet. Politisch: der westfälische Friede, geistesgeschichtlich die Toleranz – Lessings Ringparabel.



Die neuzeitliche Theologie ist der Vernunft verpflichtet. Mehr noch. Sie hat sie mit hervorgebracht. Aber – und hier wird die Sache interessant – sie vertritt eine radikale Vernunft. Religiös ausgedrückt: Die Theologie erinnert an die Wurzel – radix = Wurzel – der Ratio im Logos Theou. Es gibt keine autonome Vernunft, die nur sich selbst gehorcht. (1 Kor 2,1) Es gibt einen Verstand, der vernimmt, der auf Gottes Weisheit, auf das Gesetz und das Evangelium hört und dabei die Unterscheidung der Geister übt. Nicht religiös ausgedrückt: Die menschliche Vernunft ist nicht die höchste Instanz, weder gottunmittelbar noch gottähnlich, sondern immer auch ein Produkt der kulturellen Ressourcen, die sie nicht selber geschaffen hat.



Und wenn sie die eine Überzeugung mit der anderen verbinden, können sie das Religiöse nicht religiös begründen. Dass das gelingt, ist ganz entscheidend für die Dialogfähigkeit der Theologie. Denn nur so kann die Theologie mit den Geisteswissenschaften Religion als Kultur und mit den Sozial- und Humanwissenschaften als Projektion verstehen, ohne von der Überzeugung des Glaubens lassen zu müssen. Die Theologie macht die Unterscheidung von Glauben und Wissen mit, aber spaltet den Glauben nicht ab, sondern versteht sich als Wissenschaft des Glaubens, weil sie auch beim Nachdenken über Gott die Standards der Rationalität einhält.



Ich sag es ganz platt: wir beten nicht um Erleuchtung, wenn wir Texte diskutieren und fallen nicht auf die Knie, wenn wir Probleme lösen und wir danken Gott nicht, wenn wir sie gelöst haben. Der Bibelwissenschafter arbeitet mit den Methoden der Literarkritik, der Kirchengeschichtler wie ein Historiker, der Systematiker gibt Rechenschaft über seine Verstehensvoraussetzungen, der Praktische Theologe bemüht sich um eine diskursfähige Theorie der Praxis. Mit anderen Worten: Theologie lässt sich ohne Glauben an Gott treiben.



4 Warum Theologie besser glaubt, was sie sagt und besser sagt, dass sie glaubt



Ich glaube aber nicht an eine Theologie, die meint, ohne Glauben Glaubenswissenschaft treiben zu können. Und halte das auch nicht für ratsam. Bitte entschuldigen Sie, dass ich um der Pointe willen, einen derartigen Salat mache. Was – um Himmels willen – heisst jetzt glauben?



Glauben ist mehrdeutig. Glauben heisst meinen. Es ist schwächer als etwas wissen. Was man meint, nimmt man nur an. Glauben heisst aber auch überzeugt sein. Das ist stärker als etwas wissen. Wovon ich überzeugt bin, kann ich bezeugen. Es ist eine tiefe Gewissheit. Wenn Gewissheiten erschüttert werden, stürzen nicht nur Wissensgebäude zusammen.

In der Auseinandersetzung, wohin das Reden über die Rede von Gott gehört, hat die Theologie gegen die permanente Verwechslung von Meinen, Wissen und Glauben im Sinne der Gewissheit zu kämpfen.

Zur Linken sind die restlos aufgeklärten, die religiöse Überzeugung für eine Meinung halten, die nicht in Wissen überführt werden kann. Zur Rechten sind die Fundamentalisten, die religiöse Überzeugung wie sicheres Wissen behandeln und sich in ihrer Meinung durch die Vernunft nicht erschüttern lassen. Und zwischen diesen Extrempositionen ist eine Theologie, die Glauben und Wissen auf eine ihre eigene – theologische – Weise so verknüpft, dass auch den Verächtern der Religion vernünftige Gründe geliefert werden.

Aber – im Sinne der radikalen Vernunft – muss theologisch auch auf den Grund der Gründe verwiesen sein. Religion lässt sich vernünftig begründen. Aber Rede von Gott ist Zeugnis. Gott ist der Grund, warum der Glaube sich coram publico begründen will und Theologie coram deo getrieben wird. Notabene gilt das coram deo auch für alle anderen Wissenschaften. Nur anerkennt die Theologie den Grund, auf dem Wissen steht. Wenn sie nicht mehr bekennt, was sie anerkennt und gleichsam versucht ist, sich als bessere Religionswissenschaft zu gebärden, um alles zu vermeiden, dass sie in den Geruch des Verdachts einer höheren Sonntagsschule bringen könnte, kommt mir es vor – um Paulus zu zitieren – als ob Theologie sich des Evangeliums schämt.

Ich meine, die Theologen würden sich und der Universität einen Bärendienst leisten, wenn sie nur noch über Religion statt von Gott reden und Glaubensvollzug und Glaubensgrund nicht auseinanderhalten. Lassen Sie mich zum Schluss meine Überzeugung mit Sätzen zusammenfassen, die ich nicht selber erfunden habe. Ich zitiere Karl Barth:

Ich kann das Wort «Religion» nicht mehr hören oder aussprechen ohne die widerwärtige Erinnerung, dass es nun einmal tatsächlich in der neueren Geistesgeschichte die Flagge ist, die den Zufluchtsort anzeigt, wohin sich die protestantische, zum Teil auch die katholische Theologie mehr oder weniger fluchtartig zurückzuziehen begann, als sie nicht mehr den Mut hatte, vom Objekt, d.h. vom Worte Gottes aus zu denken, sondern heilfroh war, eben an dem Ort, wo das Fähnlein «Religion» wehte, ein Äckerlein zu finden, eine historisch-psychologische Wirklichkeit, der sie sich, auf Weiteres verzichtend, als rechte Als-ob-Theologie im Frieden mit dem modernen Wissenschaftsbegriff zuwenden konnte. Hinter dem Fremdwort «Religion» und Allem, was damit anfängt, aber auch hinter dem deutschen Wort «Frömmigkeit», das manche lieber brauchen, verbirgt sich mehr oder weniger verschämt oder unverschämt das Bekenntnis, dass man es als moderner Mensch nicht mehr wagt, prinzipiell und primär und mit erhobener Stimme von Gott zu reden.“2



Wagen wir es!

1Pascal Mercier, Perlmanns Schweigen, München 91997, 17.

2 Karl Barth, Unterricht in der christlichen Religion, Bd. I, GA 17, S. 224f.